Glücklichsein: Die offizielle Religion der Moderne

Bis zur Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, die uns das Leben, die Freiheit und das Streben nach Glück bescherte, glaubten die Menschen nicht, dass Glück etwas sei, das zu einem bestimmten Recht gemacht werden müsse, das man dann „frei“ ausüben könnte. Stattdessen ist das Streben nach Glück fest in unserer DNA verankert. Es liegt in unserer Natur, danach zu streben. Wir könnten uns sogar fragen, ob es jemals jemanden gegeben hat, der gehandelt hat, um unglücklich zu sein? Das Streben nach Glück ist einfach ein menschlicher Impuls und gehört zu den Gegebenheiten des Lebens.

Wie dem auch sei, die amerikanische Sehnsucht nach Glück wurde in die ganze Welt exportiert. Ob durch Filme, die Popkultur, die kapitalistische Turbo-Konsumwirtschaft oder die typische „Ich-hab’s-allein-geschafft“-Einstellung – ein Großteil der Welt hat das amerikanische Verständnis davon, wie man sein Glück anstreben sollte, übernommen. Wir alle wollen ein Stück vom amerikanischen „Glückskuchen“ abhaben. Doch wie Studien immer wieder zeigen, sind die Amerikaner nicht wirklich glücklich. Trotz aller Annehmlichkeiten und des hohen Konsums gibt es in diesem Land immer mehr Selbstmorde, Angstzustände, Depressionen und Drogenabhängigkeit. Amerika ist nicht glücklich… und Großbritannien ist auch nicht viel besser.

Also, was ist hier los?

Vielleicht sollten wir uns zunächst einmal fragen, was wir unter Glück verstehen. Was ist Glück?

Was ist Glück?

So seltsam es klingt, die Antwort darauf ist ein bisschen knifflig. Der Versuch, Glück zu definieren, ist eine etwas unglückliche Aufgabe. Aber wenn wir modernen Menschen von Glück sprechen, meinen wir in der Regel so etwas wie: einen emotionalen Zustand des Wohlbefindens, der durch ein Gefühl der Freude oder Zufriedenheit gekennzeichnet ist. Wir sind uns bewusst, dass Glück ein Zustand ist, der kommt und geht und normalerweise nicht lange anhält. Gefühle sind noch flüchtiger. Wir wissen auch, dass wir manchmal nach außen hin zufrieden sein können, vor allem, wenn wir glauben, dass dies von uns erwartet wird, auch wenn wir innerlich nicht glücklich oder zufrieden sind.

Es kann sogar sein, dass unsere moderne Besessenheit vom Glück uns zum Scheitern verurteilt. In einer individualistischen Kultur wie der unseren leben wir nach dem sozialen Mythos, den wir geschaffen haben: „Ich muss immer glücklich sein“, ist eine große Herausforderung. Das führt unweigerlich zu Enttäuschungen, die dann das Glücklichsein beeinträchtigen. Die große religiöse Einsicht, dass wahres menschliche Glück oder Erfüllung nicht allein auf materieller Ebene zu finden ist, darf nicht übersehen werden.

Mit Geld kann ich mir keine Liebe kaufen… oder Glück

Der Gedanke, dass materieller Konsum nicht zu Glück führt, ist nicht neu. Dieses Konzept ist ein Grundpfeiler so ziemlich jeder Religion. Aber man muss nicht religiös sein, um zu erkennen, wie albern einige der Behauptungen sind, die in unserer hyperkonsumistischen Kultur aufgestellt werden. Das nächste Zubehör, die nächste Gehaltserhöhung, das nächste Designerstück oder sogar der nächste Schluck Limo versprechen uns Glück! Großunternehmen und Werbetreibende versprechen seit mehr als einem Jahrhundert Glück, haben die Menschen aber stattdessen in ein Rattenrennen von freudloser Produktion und Konsum geführt. Und die Gesellschaft scheint nicht den kollektiven Willen oder die Vorstellungskraft zu haben, etwas dagegen zu unternehmen.

Derzeit deutet alles darauf hin, dass der Grund, warum wir nicht glücklicher werden, während die Gesellschaft reicher wird, darin liegt, dass wir auf unserer Suche nach Glück den falschen Dingen nachjagen.

Studien scheinen immer wieder die uralte Weisheit zu bestätigen, dass die Quelle wahren menschlichen Glücks im Glauben, in der Familie, in der Freundschaft und in einer sinnvollen Arbeit zu finden ist.

Wissenschaftler haben immer wieder festgestellt, dass Menschen, die eine spirituelle Praxis haben oder religiösen Überzeugungen folgen, glücklicher und weniger ängstlich sind und die Schicksalsschläge des Lebens besser bewältigen können als Menschen ohne eine solche Praxis. Ebenso zeigen die Daten, dass Menschen in Kulturen und Gesellschaften, die soziale Beziehungen als Weg zum Glück fördern, glücklicher sind. In individualistischen Gesellschaften, so die Wissenschaft, sollten die Menschen versuchen, sich weniger stark auf ihren Wunsch, glücklich zu sein, und sich auf den Aufbau sozialer Beziehungen zu konzentrieren: die Familie besuchen, mit Freunden ausgehen und Praktiken wie Mitgefühl und Dankbarkeit entwickeln; dadurch fühlen wir uns vielleicht mehr mit anderen verbunden. „Die Notwendigkeit mag die Mutter der Erfindung sein, aber die gegenseitige Abhängigkeit ist die Mutter der Zuneigung“, heißt es. Wir Menschen sind soziale Wesen. Aber dieses schillernde Ding namens Moderne hat uns aus unserem natürlichen Zustand herausgerissen, aus unserem evolutionären [entwicklungsmäßigen] und historischen sozialen Geflecht, und hat uns alle eher ängstlich gemacht.

Wissenschaft des Glücks – Kuchendiagramm

Bleiben wir noch ein bisschen bei der Wissenschaft, bevor wir mit ein paar kurzen subjektiven, philosophischen Überlegungen enden. Die Forschung hat auch gezeigt, dass die Hälfte dessen, was im Islam als mizaj bezeichnet wird – das eigene übliche Temperament oder die Stimmung – von unseren Genen bestimmt wird. Manche Menschen sind genetisch dazu veranlagt, glücklicher zu sein als andere. Manche sind eher melancholisch, andere eher düster oder launisch und wieder andere eher fröhlich, nachdenklich oder humorvoll. Natürlich sind wir nicht Geiseln unserer Veranlagung. Es gibt Dinge, die wir tun können, um sie zum Besseren zu verändern. Und genau da kommt das nächste Stück vom Kuchen ins Spiel.

40% des Glücks hängen mit unserem eigenen Gemütszustand zusammen, sagt man uns. Und das ist etwas, das wir kontrollieren können. Ein Großteil des Glücks hängt also davon ab, was wir positiv tun, wie wir positiv denken, wie wir verantwortungsbewusst handeln und wie wir es vermeiden, rücksichtslos zu leben oder uns in Abhängigkeiten zu verstricken. Unser Gemütszustand, unsere Einstellung und wie wir uns in dieser Welt verhalten, kann einen großen Einfluss auf unser Glück haben. Das heißt, die Art und Weise, wie wir uns in unserem Leben verhalten, kann einen entscheidenden Einfluss haben.

10% Prozent beziehen sich auf unsere äußeren Umstände. Wetterumschwünge können unsere Stimmung und unser Glück beeinflussen, ebenso wie jahreszeitliche Veränderungen. Verluste und Tragödien sind zwei weitere wichtige Dinge, die uns emotional beeinflussen. Und daran können wir wenig ändern, auch wenn es vielleicht bestimmte Wege gibt, auf diese Umstände zu reagieren, die besser sind als andere.

Was die Wissenschaft vom Glück angeht, möchte ich diesen wichtigen Punkt hinzufügen. Peter Singer, Professor für Ethik, sagt:

Wenn Ideen zum ersten Mal in die Welt kommen, sind sie oft schwammig und bedürfen weiterer Arbeit, um sie genau zu definieren. Das mag bei der Idee des Glücks der Fall sein.

Ethics in the Real World (New Jersey: Princeton University Press, 2016), 197.

Obwohl wir also von den allgemeinen Fakten, Zahlen und Prozentsätzen in diesem Bereich profitieren können, ist die Wissenschaft des Glücks noch in Arbeit.

Sollte Glück das höchste Ziel sein?

Nachdem wir festgestellt haben, dass wir alle einen angeborenen Drang haben, nach Glück zu streben, scheint es ein kleines Paradoxon – eigentlich eine Tautologie – zwischen dieser Aussage und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung zu geben, in der es heißt, dass jeder die Freiheit hat, nach Glück zu streben. Wie kann Glück ein Recht sein, das wir selbst wählen, wenn das Streben nach Glück ein angeborener Teil unserer Veranlagung ist?

Die einfachste Version von Glück ist, dass es nichts anderes ist als ein gutes Gefühl. Diese Idee steht hinter der Philosophie, die das Glück als höchstes Gut propagiert und der wir uns als Nation verschrieben haben: dem Utilitarismus. Es ist die Philosophie von Bentham und Mill, die den moralischen Wert einer Handlung anhand ihrer Folgen beurteilt, die üblicherweise wie folgt ausgedrückt wird: „das größte Vergnügen [Glück] für die größte Anzahl von Menschen“. Demnach ist jede Handlung moralisch gut, wenn sie dem Betreffenden Freude bereitet und niemandem sonst schadet. Nietzsche verschmähte das utilitaristische Denken.

Für Nietzsche stellt die Idealisierung des Glücks den Wunsch nach leichter Bequemlichkeit über das Streben nach Größe [Bedeutung]… Glück ist etwas für einfache Geschöpfe, wie die Katze, die sich im Körbchen zusammenrollt, oder das Kind, das im Planschbecken plantscht; ernsthafte Erwachsene sollten höhere Ziele haben.

Baggini & Macaro, Life: A User Manual (London: Ebury Press, 2020), 159.

Im Gegensatz zu dieser konsequentialistischen Philosophie steht die Tugendethik des Aristoteles. Diese kommt der traditionellen islamischen Vorstellung von Glück (sa’adah) sehr viel näher. Es ist die Ethik, die besagt, dass man eine Handlung tun sollte, weil es das Richtige ist, unabhängig davon, welche Gefühle sich daraus ergeben oder nicht. Es geht darum, ein Leben zu führen, in dem man die guten Gewohnheiten oder Eigenschaften, die als Tugenden bekannt sind, in sich selbst pflegt. Darin liegt die Eudaimonie, das „Gedeihen“ oder „Glück“.

Glück im Islam

Der Qur’an sagt:

Wer rechtschaffen handelt, sei es Mann oder Frau, und dabei gläubig ist, den werden Wir ganz gewiss ein gutes Leben leben lassen. 

Der Qur’an, Kapitel 16, Vers 97.

Dieses hayyatun tayyibah, das „gute Leben“, wurde von muslimischen Gelehrten als ein Leben des Glücks und der Zufriedenheit in dieser Welt verstanden.1 Es ist ein Leben der Anbetung und des Gehorsams gegenüber Allah sowie der Pflicht und des aufrichtigen Dienstes an anderen; dazu gehört auch, die Seele von ihren geistigen Lastern zu befreien und in ihr die geistigen Tugenden zu nähren.

Einige Studien haben gezeigt, dass es einen Zusammenhang zwischen Glück und religiösen Ritualen gibt. Religiöse Rituale helfen dabei, Verantwortung für sich selbst und für andere zu übernehmen, und können uns disziplinieren, um uns von Süchten, Drogen oder Alkohol fernzuhalten, was wiederum zu unserem allgemeinen Glück beiträgt. Auch religiöse Gesänge tragen dazu bei, dass wir uns wohler fühlen. Bei Ritualen und Gesängen denkt man an das muslimische Gebet (salah) und an den Akt des dhikr, des Gottgedenkens: das Anrufen oder ehrfürchtige Singen bestimmter Sätze zur Lobpreisung Gottes, Seiner Herrlichkeit oder Seiner Größe. Alles in allem hilft die Einhaltung der Religion, indem sie bestimmte moralische Grenzen und Disziplin schafft, die Menschen vor bestimmten Schwächen und Lastern zu bewahren, die zu Unglück führen können, wie z. B. die Sucht nach Alkohol oder Glücksspiel.

Für den Gläubigen jedoch ist das wahre summum bonnum, das höchste, ultimative Glück, wie der Vers im Qur’an sagt:

Für diejenigen, die Gutes tun, gibt es das Beste (an Lohn) und noch mehr.

Der Qur’an, Kapitel 10, Vers 26.

Unter dem „Besten“ versteht man das Paradies mit all seinen Wonnen und seiner unendlichen Glückseligkeit, während das „ziyadah“, das „noch mehr“, die ultimative Wonne der ru’ya ist – der glückselige Anblick Gottes. Der Prophet ﷺ sagte uns:

Wenn die Himmelsbewohner in den Himmel und die Höllenbewohner in die Hölle eintreten, wird ein Vorbote ausrufen: ‚O Leute des Paradieses! Es gibt für euch eine Verabredung mit eurem Herrn, das Er für euch herbeiführen will.‘ ‚Was mag diese Verabredung sein?‘, fragen sie. ‚Hat Er nicht [schon] unsere Waagen schwer gemacht und unsere Gesichter erhellt und uns in den Himmel gebracht und uns aus der Hölle befreit?‘ Dann wird der Schleier gelüftet und sie werden das Antlitz Gottes erblicken. Bei Gott, nie wird den Gläubigen etwas Lieblicheres gegeben werden, als Ihn zu erblicken.

Muslim, Nr. 181.
  1. Siehe: Ibn Juzayy, al-Tashil li ‘Ulum al-Tanzil (Dat Tayyibah al-Khudara’, 2018), 2:775.

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