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Viele Muslime behandeln die Dawa, als wäre sie eine Liste von Argumenten, die man [auswendig]lernen müsse, um Menschen davon zu überzeugen, Muslim zu werden. Tatsächlich haben mich viele Muslime gebeten, ihnen eine Liste von Büchern zu empfehlen, die sie lesen sollen, um „Dawa zu machen“. Von allen Fragen, mit denen ich konfrontiert wurde, finde ich diese jedoch am schwierigsten zu beantworten. Das liegt daran, dass Dawa kein begrenzter Themenbereich ist, den man mit einem Buch bewältigen kann – oder gar einer [ganzen] Liste von Büchern. Er ist viel weiter gefasst.

Dawa ist die Einladung zum Islam, aber was ist der Islam? Ja, Islam könnte einfach „Unterwerfung unter Gott“ heißen, aber letztlich ist es eine Weltanschauung (Dīn), die den Sinn des Universums, des Lebens und der Menschheit erklärt.

Dawa bedeutet auf Arabisch „Einladung“ und bezeichnet die Einladung zum Islam. Um eine Einladung zu machen, muss man jedoch wissen, wozu man [überhaupt] einlädt und wovon man jemanden „weglädt“ [im Sinne von raten, sich von etwas zu entfernen].

Um zum Islam einladen zu können, muss ein Muslim wissen, warum er überhaupt Muslim ist! Muslime müssen also ausreichend Wissen haben über:

  1. Das Universum, das Leben und die Menschheit, was sich bei diesen Dingen beobachten lässt, die Natur [Beschaffenheit] dieser Dinge und wie sie funktionieren (d. h. Kosmologie). Wie Menschen denken, Gesellschaften bilden und warum sie handeln sowie die Aufzeichnungen menschlicher Geschichte.
  2. Die islamische Beschreibung dessen, was vor der Existenz des Universums ist, was außerhalb des Universums liegt und was danach kommt – und die Beziehung menschlicher Handlungen zu diesen Dingen. Auch die islamische Beschreibung von Teilen aus der Geschichte, die unseren Aufzeichnungen nicht zugänglich sind.
  3. Aus (1) und (2) ableitend muss der Da’ī (derjenige, der zum Islam einlädt) dann die islamische Lösung für die Lebensführung sowie die Probleme der Menschheit verstehen, wie Ressourcen verteilt werden sollten, das Familienleben, das soziale Miteinander, die Umgangsformen, die spirituelle/emotionale Erfüllung, die verantwortliche Regierung, der Umgang mit der Umwelt usw.
  4. Um jemanden davon zu überzeugen, dem Islam zu folgen, muss man zunächst aufzeigen, dass die bisherigen Antworten auf die Probleme von (1) nicht zutreffen [d. h. ungenau/unrichtig sind]. Der Da’ī muss andere (einschließlich aller möglichen) Kosmologien, Glaubenssysteme (Aqaid) und Weltanschauungen/Ideologien (al’Adyan, Plural von Dīn) und die von ihnen propagierten Lösungen für das menschliche Leben und die Probleme verstehen und begreifen, warum sie an Ungenauigkeit, Widersprüchen und unbegründeter Autorität [auch: Befugnis/Kompetenz] leiden.

Es ist klar, dass die Dawa ein umfassendes Verständnis der Realität erfordert und mit jedem Aspekt menschlichen Wissens verbunden ist. Wenn Muslime wirklich Dawa machen wollen, müssen sie schlichtweg über eine Liste von Büchern hinausgehen und jedes Buch zu einem Teil ihrer Liste machen, ihr Wissen erweitern und nach Antworten suchen, wenn die Bücher sie nicht enthalten. Letztendlich ist die Verbesserung der muslimischen Dawa untrennbar mit der intellektuellen Wiederbelebung der Muslime und folglich auch mit der Wiederbelebung der islamischen Zivilisation verbunden.

Lass dich dadurch nicht von der Dawa abhalten, sondern lass dich [vielmehr] anspornen, zu lernen, zu studieren und zu forschen – und zu entdecken. Wir leben in einer Zeit, in der fast jedes bisschen Wissen über einen Computer und eine Internetverbindung zugänglich ist – mach das Beste daraus – das wird dein Denkvermögen in jedem Aspekt deines Lebens verbessern und dich motivieren, mehr zu tun. Die erste Einladung zum Islam muss an dich selbst gerichtet sein, denn wenn du Menschen zum Islam einlädst, geht es eigentlich darum, sie zu Wissen UND Weisheit einzuladen (d. h. das Wissen auch richtig zu nutzen).

Die westliche Zivilisation (wie auch jede andere Zivilisation davor) hat sich nicht aufgrund von Institutionen oder Regierungssystemen weiterentwickelt, sondern weil die Menschen neugierig auf die Welt wurden, indem sie (nicht-theologische) Bücher aus der islamischen Zivilisation und wiederentdeckte theologische Bücher alter christlicher Denker lasen – wir werden keinen Fortschritt machen, wenn wir nicht dasselbe mit den nicht-theologischen Werken da draußen tun sowie den theologischen Büchern unserer eigenen Zivilisation.

Selbst wenn dein Beruf nur der eines Bäckers, Schuhmachers, Kesselflickers oder Schneiders ist, gibt es viele einführende Bücher zu jedem Thema, die zu lesen überhaupt keine Zeit in Anspruch nimmt, jedoch deinen Horizont beträchtlich erweitern und dir helfen, zum intellektuellen Erwachen der muslimischen Umma beizutragen. Jeder Muslim sollte sich bemühen, ein „Alleskönner“ zu sein, aber ein Meister in (mindestens) etwas zu sein. So wird die muslimische Umma gemeinsam zu einem Meister in allem.

Einige Muslime beklagen, dass die islamische Gelehrsamkeit in der muslimischen Welt heute nicht so gut ist wie in der Vergangenheit – und im Großen und Ganzen stimmt das auch. Der Grund dafür wird deutlich, wenn wir uns ansehen, aus welchem Pool Gelehrte rekrutiert werden: aus uns.

Die Gelehrten sind ein Spiegelbild unserer selbst. Alle Gelehrten begannen als Laien mit dem gemeinsamen Wissensstand und der Weisheit der Umma. Wenn die muslimische Umma ein hohes Maß an Wissen besäße und danach streben würde, Weisheit zu vervollkommnen, könnten wir die Qualität unserer Gelehrsamkeit viel weiter steigern. Eine Analogie dazu wäre, wenn wir uns vorstellen, dass Gelehrte diejenigen sind, die stehen, während andere sitzen. Aber selbst im Stehen können die Gelehrten nicht viel weiter sehen als die Umma. Wenn die Umma jedoch aufsteht und die Gelehrten auf ihre Schultern hebt, können sie weiter in den Horizont sehen und die Umma viel besser anleiten. Wenn man die Messlatte für das durchschnittliche Verständnis der Muslime anhebt, steigt automatisch auch die Messlatte für diejenigen, die gelehrter sind als der Durchschnittsmuslim. Außerdem können Muslime auf diese Weise Gelehrte, denen es an Wissen und Weisheit mangelt, besser aussortieren – wenn wir jeden Kommentar eines Gelehrten verstehen und strenge Beweise dafür verlangen können.

Viele Muslime beklagen sich darüber, dass sie keine Zeit zum Nachforschen haben. Doch viele der besten Du’at (Plural von Da’ī) haben studiert, während sie nebenbei einem Job nachgingen, an der Universität studierten und sich um ihre Familie kümmerten. Du hast mehr freie Zeit, als du denkst, warum also nicht deine Zeit zum Denken nutzen?

Fünf Dinge, die du dir nach dem Lesen [dieses Artikels] vornehmen solltest, um dich als Muslim zu verbessern und die islamisch-intellektuelle Wiederbelebung anzustoßen:

  • Lies einführende Lektüre1 oder Artikel zu jedem Thema, das du finden kannst – selbst wenn die Einführung sehr grundlegend [d. h. wirklich Anfängerniveau] ist (es ist keine Schande, auch die einfachsten Bücher zu lesen – manchmal lernen sogar Großgelehrte eines Gebiets etwas oder wissen es neu zu schätzen, indem sie es einfach noch einmal erklärt bekommen)
  • Wähle aus den einführenden Büchern ein paar Themen aus, die dich interessieren, und vertiefe sie
  • Lerne die Definitionen von Wörtern, was sie bedeuten und worauf sie sich genau beziehen. Wenn du nicht weißt, was „Iman“, „Taqwa“ oder „Nafs“ in der menschlichen Psychologie bedeuten, hast du diese Begriffe nicht verstanden. Genauso musst du wissen, was „Denken“, „Denkweise/Gedanke“, „Wissen“ und „Weisheit“ ist, denn was du nicht verstehst oder nicht definieren kannst, wirst du wahrscheinlich [selbst] nie richtig erwerben. Denken ist Sprache und Sprache ist Denken. Wörter sind nur mentale [gedankliche] Kategorien für Dinge in der beobachteten oder erkannten Realität – lerne, warum etwas in eine Kategorie fällt und in eine andere nicht, dann hast du es verstanden.
  • Frage bei allem nach dem „Warum?“. Die meisten Dinge, die einfach erscheinen, sind es [gar] nicht, und viele Dinge, die komplex erscheinen, sind tatsächlich einfach. Wenn du den Unterschied nicht erkennen kannst, wirst du auch nicht wissen, warum Dinge geschehen (d. h. die Ursachen). Wenn du gerade Zeit hast, sei es auf Reisen, beim Spazierengehen oder bei der Handarbeit – lass deinen Verstand über die Dinge nachdenken, die du in deinem Leben beobachtest, und über bestimmte Phänomene, die du gesehen hast, selbst über solche, die du tagtäglich siehst, aber nie hinterfragst.
  • Kombiniere all diese Punkte miteinander – studiere die Welt aufs Neue mit frischen Augen. Wenn du die Welt von Grund auf verstehst, wirst du sie auch verstehen und neu gestalten können.

  1. Einige Beispiele für einführende Buchreihen für englischsprachige Leser [gibt inzwischen auch vieles davon auch auf Deutsch] :
    „Teach Yourself“ Reihe
    „Beginners Guide“ Reihe
    „Very Short Introduction“ Reihe (von der Oxford University Press)
    „How to Read“ Reihe
    „For Dummies“ Reihe

    Reihen für mittleres Niveau:
    „Cambridge Companion“ Reihe
    „Oxford Companion“ Reihe
    – „Blackwell Companion“ Reihe

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